Ahoi Nachbar // Ein Berliner Mädchen, das auszog, um am Meer zu leben

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Die Liebe zu ihrem Freund Thomas und dem Meer – das waren die beiden ausschlaggebenden Gründe, warum es sich Annabelle nicht zwei Mal überlegen musste, von ihrer Heimatstadt Berlin ganz bis nach Kiel zu ziehen. Vom Kiez ging es direkt nach Gaarden: Im Januar diesen Jahres bezog sie gemeinsam mit Thomas eine außerordentlich hübsche Altbauwohnung unweit des Vinetaplatzes. Bepackt war Annabelle mit all ihren Habseligkeiten – in erster Linie mit jeder Menge Bücher. In der neuen Wohnung türmen sich die Exemplare nun stapelweise von den rustikalen Holzdielen bis hoch unter die Decke. Wortwörtlich. „Lesen ist eine meiner größten Leidenschaften“, verrät mir die junge Frau ein wenig schüchtern. Beim Anblick der Büchertürme glaube ich ihr das sofort. Meine Augen wissen anfangs nicht, wohin sie zuerst wandern sollen. Irgendwie habe ich das Gefühl, es wäre sehr intim, mir alle Buchtitel genau anzusehen. Ein bisschen so, als ob ich in Annabelles Leben blättern würde. Komm mit auf einen ganz besonderen Besuch, der mir sicherlich noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Als ich mich an diesem brütend heißen Tag von meinem Fahrrad schwinge und ganz bis in den fünften Stock des urigen Altbaus schleppe, bin ich schweißgebadet. Oben an der Haustür angekommen würde ich Annabelle und Thomas liebend gerne direkt in den Arm nehmen, aber das verkneife ich mir in meinem Zustand lieber. Noch ein wenig zurückhaltend führen mich die beiden zur Begrüßung durch die drei Räume ihrer Wohnung. Alte Dielen knartzen unter unseren Schritten, eine schwarze Katze schlängelt sich zwischen meinen Füßen entlang. Alles ist lichtdurchflutet und offen. Mancherorts sehe ich noch den einen oder anderen Umzugskarton – die beiden kommen hier gerade erst an.

In der Küche

Um uns zu unterhalten, machen wir Rast in der gemütlichen Küche. Entspannt lehnen wir uns an die Arbeitsplatte über den Einbauschränken. Im Licht der Nachmittagssonne leuchten Annabelles Haare in einem warmen Rotton, in der Mitte ihrer Oberlippe hat sie sich ein Piercing stechen lassen, an ihrer Hüfte schwingt ein schwarz-weißer Rock aus den 50er Jahren mit jeder ihrer Gesten hin und her. Thomas´ Oberlippe schmückt kein Piercing, sondern ein auffälliger Schnurrbart, seine Haare hat er locker mit den Fingern zur Seite gekämmt, er trägt ein Karohemd von Ben Sherman und blaue Shorts. Die beiden kommen nicht von hier, das sehe ich sofort. Vor knapp 1 ½ Jahren lernte sich das junge Pärchen über das Internet kennen. Damals wohnte Annabelle noch in Berlin, ihr Thomas in Brunsbüttel. Irgendwann zog Thomas der Arbeit wegen nach Kiel – Annabelle folgte ihm kurze Zeit später. Auf meine Frage, ob man sich als echte Berlinerin in einer kleinen Stadt wie Kiel wohlfühlen kann, antwortet mir Annabelle, dass sie glücklich darüber sei, in Gaarden zu leben. Der Stadtteil erinnert sie stark an ihre Heimat: Die unterschiedlichen Kulturen, das urbane Treiben, die vielen Kinder und Familien. „Gaarden ist Berlin teilweise schon sehr ähnlich“, sagt sie und zupft dabei an ihren roten Locken. „Nur etwas sauberer könnte es manchmal sein, und nicht so abgenabelt vom Rest der Stadt.“ Thomas wirft hinterher: „Außerdem fehlen ein paar nette Bars und Cafés. Das jetzige Angebot bietet jungen Leuten nicht viel.“

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Ganz besonders gut gefällt Annabelle an Kiel, dass es hier sehr viel entspannter zugeht, als in der Großstadt. In Berlin sind immer tausend Sachen gleichzeitig los, das hat sie irgendwann unter Druck gesetzt. Die norddeutsche Gelassenheit tut ihr gut – so langsam fängt sie an zu entschleunigen.

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Wenn sich Annabelle und Thomas entscheiden müssten, dann wäre wohl der Tisch vor dem großen Küchenfenster ihr persönlicher Lieblingsplatz. Dort sitzen die zwei morgens sehr gerne mit einer Tasse frischem Kaffee und beobachten das Geschehen auf der Straße. Thomas verrät mir: „Von hier aus sieht man immer wieder Betrunkene, die zu früher Stunde aus den Kneipen taumeln. Bei offenem Fenster lauschen wir auch manchmal der Musik unserer türkischen Nachbarn.“ Während wir uns unterhalten, entsteht eine selbstgemachte Pizza Margarita. Annabelle knetet den Teig, Thomas schneidet den Mozzarella und die Tomaten. Sofern es ihnen möglich ist, kochen sie gerne gemeinsam. Zu meiner großen Freude werde ich im Anschluss zur Verköstigung eingeladen – mir schmeckt es herrlich.

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Im Wohn- & Esszimmer

In der Mitte des großen Raumes steht ein massiver Tisch aus Eichenholz – ein Vermächtnis von Annabelles Vater. Die zugehörigen Stühle wurden nachträglich auf dem Trödelmarkt gekauft. Unter einem Dachfenster entdecke ich einen Schallplattenspieler mit umfangreicher Plattensammlung. Von der Decke baumelt ein Kronleuchter, verziert mit Plastikkristallen. An der Wand hängt ein Gemälde von nostalgischen Segelschiffen; im Zimmer duftet es nach sommerlichen Blumen und frisch ausgepusteten Kerzen. Ich sehe es ihrer Einrichtung an: Annabelle und Thomas lieben Ausflüge auf den Flohmarkt. Nach und nach haben sie sich in den vergangenen Monaten auf diese Weise ihre liebsten Möbelstücke zusammengesammelt. „Unser Stil ist das, was uns gefällt. Das sind einfach wir“, verrät mir Thomas. Nachdem sich das Pärchen kennengelernt hatte, konnten sie sich erst richtig entfalten – somit nicht nur zueinander, sondern auch zu sich selbst finden. „Seit ich mit Thomas zusammen bin, habe ich meine Leidenschaft für Nostalgie wiederentdeckt. Nun lebe ich diese gemeinsam mit ihm aus“, erzählt mir Annabelle glücklich.

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Immer wieder umarmen und küssen sich die beiden. Ein bisschen wirken sie wie verliebte Teenager, ein bisschen wie man selbst damals. Als ich daraufhin ein Porträt von ihnen machen möchte, reagieren sie erst zögerlich – „Endlich ein Familienfoto“, sagen sie im Anschluss.

Im Schlafzimmer

Je mehr Zeit ich mit Annabelle und Thomas verbringe, desto mehr wird mir klar, wie viel wir drei gemeinsam haben. Nicht nur das Interesse für längst vergangene Jahrzehnte, außergewöhnliche Kleidung und persönlich gestaltete Wohnungen verbindet uns – vor allem ist es die große Liebe zum Meer. Im Schlafzimmer fällt mein Blick sofort auf ein gerahmtes Plakat vom mare-Verlag. Genau das gleiche habe ich selbst vor ein paar Wochen zufällig entdeckt und mit zu mir nach Hause genommen. Zu sehen ist die aufgeraute, dunkle See aus Sicht eines Schiffbrüchigen. An den Punkt, wo sich Wellen und Horizont treffen, hat Annabelle ein kleines Papierboot geheftet. „Das ist das Bild, in dem ich immer versinken kann“, erzählt sie mir. Überall sichte ich Ankersymbole.

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Beim Verlassen der Wohnung fällt mir noch ein an der Tür klebender Sticker auf. Drauf zu lesen ist ein Zitat aus dem Roman „Die kleinen Füchse“ von Lillian Hellman: „Wir beide, du und ich…“ Das passt gut, finde ich und fahre mit einem Kopf voller Geschichten wieder heim.